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Thema der Woche | 8. Juni 2017

Auf der Zeiteninsel

Im Süden Marburgs entsteht ein einzigartiges Freilichtmuseum
Foto: Gesa Coordes

Zum Lager der Jäger und Sammler führt ein schmales Holzbrückchen. Kiefern und Birken grenzen an den Platz, an dem ein Bach leise plätschert. Die letzten Besucher haben einen Windschutz aus Ästen und eine Feuerstelle hinterlassen. Archäologe Andreas Thiedmann freut sich über die Stille an diesem Ort. Nur gelegentlich meckern und blöken Schafe und Zicklein, die das Gestrüpp im Zaum halten.

Andreas Thiedmann ist der Kopf der "Zeiteninsel" – so genannt, weil die Aue komplett von der Allna umflossen wird, einem kleinen Nebenfluss der Lahn. Auf der 3,5 Hektar großen, ehemaligen Brache vor den Toren von Argenstein im Süden Marburgs entsteht ein archäologisches Freilichtmuseum, das einzigartig für ganz Hessen sein wird. Wenn es glatt geht, wird in drei Jahren offiziell eröffnet. Ein vergleichbares Museum gibt es in Hessen nicht.

Die Archäologen stießen schon Anfang der 90er Jahre auf Spuren der prä­historischen Siedlungslandschaft im Lahntal. Mitten zwischen Rapsfeldern, Baggersee, Bundesstraße und Main-Weser-Bahn entdeckten sie zunächst einige neolithische und bronzezeitliche Relikte, dannmittelsteinzeitliche Artefakte. Da, wo bis heute Kies abgebaut wird, untersuchten sie in jährlichen Kampagnen das Gelände. Und sie fanden mehr als 100 Häusergrundrisse aus mehr als 9000 Jahren Geschichte. Von den Jägern und Sammlern bis zur römischen Kaiserzeit ließen sich Lagerplätze, Gehöfte, Weiler und Siedlungen rekonstruieren. Darunter waren auch drei Langhäuser aus der Rössener Kultur (um 4500 vor Christus), die sich auf bis zu 40 Meter erstrecken. "Eine solche Fundstelle gibt es in ganz Hessen nicht noch einmal", so Thiedmann.

Damit gerechnet hatten die Forscher ursprünglich nicht: "Wir dachten immer, dass das Lahntal an dieser Stelle nicht siedlungsfreundlich ist", sagt der Experte. Schließlich tritt die Lahn zwischen Argenstein und Niederweimar bis heute gern über ihre Ufer. Doch vor Tausenden von Jahren befand sich an dieser Stelle ein sanft gewölbter, fruchtbarer Landrücken, der die Menschen immer wieder dazu einlud, sich zwischen Allna und Lahn niederzulassen. Vermutlich konnten sie sogar die Lahn an dieser Stelle queren.

Thiedmann, damals noch freier Mitarbeiter im Landesamt für Denkmalpflege, entwickelte schon in den 90er Jahren die Idee für das Freilichtmuseum: "Ich bin begeisterter Anhänger der lebendigen Geschichtsvermittlung", erklärt der heutige Bezirksarchäologe. Er möchte zeigen, wie die Menschen damals gelebt, wie sie Feuer gemacht, Werkzeuge hergestellt, Getreide gemahlen und gekocht haben. Mit Vorführungen und durch eigenes Ausprobieren antiker Arbeits­weisen sollen die Besucher möglichst plastische Vorstellungen vom Wohnen, Wirtschaften und Leben ihrer Vorfahren erhalten. "Es soll ein Museum zum Begreifen im wörtlichen Sinne werden", sagt Thiedmann.

Der Experte schrieb ein Konzept und putzte Klinken. Ein paar Mal sei er schon nahe am Aufgeben gewesen, sagt er im Rückblick. Doch er konnte zunächst den damaligen Weimarer Bürgermeister Karl Krantz, dann auch den Kreis Marburg-Biedenkopf und die Stadt Marburg für das Projekt gewinnen. Besonders schwierig war die Suche nach einem Grundstück für das zukünftige Freilichtmuseum, das nun nicht direkt im Hauptfundgebiet, sondern einige hundert Meter weiter südlich entsteht. Allerdings äußerst verkehrsgünstig: direkt am Lahnradweg unweit des Lahnkanuweges zwischen B 3 und B 255.

Der Bundesstraße 3 hat die Zeiteninsel auch ihr Gelände zu verdanken. Die Insel mit dem kleinen See ist nämlich Teil einer ökologischen Ausgleichs­maßnahme für den Lückenschluss der B 3 im Bereich der Gemeinde Weimar. Insgesamt ist das Naturschutzprojekt, das die Planer "ParAllna" nennen, mehr als vier Kilometer lang. Es handelt sich um ein Auenverbundsystem, das als Rastplatz für Zugvögel dient. Am oberen Ende sitzt die Zeiteninsel.

Auch die Baukosten sind mittlerweile gesichert. Von den auf 5,3 Millionen Euro geschätzten Investitionskosten übernimmt das Land Hessen 4,8 Millionen Euro. Für das zentrale Besucherzentrum am Eingang wurde ein Architekten­wett­bewerb ausgelobt. Zudem gibt es einen Förderkreis mit mehr als 250 Mit­gliedern. Eine Betreibergenossenschaft, in der sich neben der Gemeinde Weimar, der Stadt Marburg und dem Kreis Marburg-Biedenkopf auch Privatleute engagieren, sorgt für den Geschäftsbetrieb. Neuerdings sind sogar ein Hof­meister, eine Museums­pädagogin und eine Sekretärin als geringfügig Beschäftigte dabei. Begleitet wird das Freilichtmuseum von einem wissen­schaftlichen Beirat internationaler Archäologen.

Und das Museum lässt sich bereits jetzt jeden Monat bei Führungen und Workshops erleben. Die Besucher schnitzen Holzlöffel, wickeln Binsen zu Körben, sammeln Kräuter, schlagen Steine und formen Keramiken wie in der Bronzezeit. In einem Projekt mit der Grundschule Niederweimar bauen Schüler die Getreidesorten Emmer, Einkorn und Gerste auf der Zeiteninsel an. Gedroschen wird dann auf dem Schulhof. Selbst Kindergeburtstage sind neuerdings möglich. Nächstes Highlight: Die Steinzeittage am 17. und 18. Juni, bei denen die Besucher durch Mitmachaktionen erfahren können, wie die Menschen in der Steinzeit ihr Leben gemeistert haben.

Wie die Zeiteninsel einmal aussehen wird, kann man bislang nur erahnen: Ein Rundweg geht über fünf "Zeitstationen", die den Besucher immer tiefer in die Vorgeschichte führen. Mit Häusern und Höfen aus den jeweiligen Epochen lebt die versunkene Welt in Zukunft wieder auf. Passend dazu werden Bäume und Sträucher gepflanzt, Gärten und Ackerbeete angelegt, Mitmach- und Probier­stationen sowie Backöfen und ein Eisenverhüttungsplatz eingerichtet. Noch in diesem Jahr wird eine Spezialfirma ein Langhaus aus der Zeit gegen Ende der römischen Präsenz nachbauen. Die Umrisse des mehr als 30 Meter langen germanischen Gehöfts sind bereits abgesteckt. Über den kleinen See sollen Besucher in Zukunft mit Einbäumen paddeln. Auch den hessischen Universi­täten dient die Zeiteninsel für Experimente. So wird zurzeit erprobt, wie die Getreidelagerung in luftdicht abgeschlossenen Gruben funktioniert.

Tonscherben, einen komplett erhaltenen Kugeltopf, Tierknochen und Speise­reste entdeckten die Archäologen übrigens auch bei ihren Grabungen. Zum Symbol der Zeiteninsel wurde indes ein Angelhaken aus Bronze, ein archäo­logischer Schatz. Schließlich handelt es sich um Hessens ältesten Angelhaken.

Steinzeittage und Führungen
Die Zeiteninsel lädt am 17. und 18. Juni, jeweils von 10 bis 17 Uhr, zu Stein­zeit­tagen ein. Unter anderem werden Speere geworfen, Tonperlen hergestellt und Steine geschliffen. Es geht um die Zähmung des Feuers, den Beginn der Sess­haftigkeit, die Erfindung des Rades und die Landwirtschaft. Eintritt: fünf Euro
Jeden ersten Samstag im Monat gibt es ab 10 Uhr Führungen.
Weitere Informationen: Zeiteninsel, Alte Bahnhofstr. 31, Weimar-Argenstein, Tel. 06421-974050, www.zeiteninsel.de
Zukünftige Stationen
Germanisches Gehöft
Aus der frühen Römischen Kaiserzeit um Christi Geburt stammt das große Wohn­stallhaus, das einst von Mensch und Tier gemeinsam bewohnt wurde. Darum gruppieren sich Schuppen, ein Grubenhaus für handwerkliche Aktivitäten und ein Speicher für Lebensmittel.
Weiler der Eisenzeit
Mehrere kleine Häuser bilden den Weiler der jüngeren Eisenzeit (um 500 vor Christus), in dem gewohnt und gearbeitet wird. Sie beherbergen Vieh, land­wirt­schaftliche Geräte und Wagen. Im Boden eingegrabene Gruben zeigen das übliche Verfahren zur Lagerung von Vorräten. Eisenschmelzöfen liegen am Rand des Dorfes.
Hofsiedlung der Bronzezeit
Aus einem Wohnhaus als Hauptgebäude sowie einem Stall, einem Schuppen und einem Speicher besteht die Hofsiedlung aus der Bronzezeit (etwa 1000 vor Christus), die zugleich die Werkstatt eines Bronzegießers zeigt.
Langhaus der Jungsteinzeit
Vermutlich lebten größere Familien oder Sippen in den Langhäusern der mittleren Jungsteinzeit (4500 vor Christus), die eine Länge von mehr als 30 Metern und eine Breite von acht Metern aufweisen. Menschen, Kleintiere und Gerätschaften waren unter einem Dach untergebracht.
Lagerplatz von Jägern und Sammlern
Zeltartige Behausungen zeigen die Lebensweise der mittelsteinzeitlichen Jäger- und Sammler-Gruppen, die nach der letzten Eiszeit um 9000 vor Christus durch Mitteleuropa reisten. Vermutlich handelt es sich bei den in der Niederweimarer Kiesgrube gefundenen Steingeräten um die Reste kurzfristig aufgesuchter Lagerplätze.
gec

Gesa Coordes

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